Es hängt alles zusammen – Jean Paul und die moderne Welt
Die Dreifachkatastrophe Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe Fukushima vom März 2011 riss meine Frau und mich plötzlich und brutal aus unserem gewohnten Alltag und Leben in der Megametropole Tokio heraus und katapultierte uns zurück nach Wunsiedel aufs beschauliche Land.
Gerade war ich noch mit 5000 anderen Menschen gleichzeitig über eine Kreuzung in Shibuya gelaufen, hatte vom Taxi auf der Hochbahn aus den Menschen im 7. Stock beim Abendessen zusehen können und hatte nachts um 3 Uhr noch problemlos eingekauft. Nun, keine 5 Tage später, saßen wir etwas benommen und auch traumatisiert in dem kleinen Städtchen meiner Kindheit, wo wir während der nächsten Monate erst mal wohnten, und verdauten unseren Kulturschock.
Nach der Betonwüste Tokios war es eine Erholung, zu Fuß rings um Wunsiedel auf vertrauten Wegen spazieren zu gehen. „Reconnecting with the land“, wie es im Englischen so schön heißt. Dabei reifte der Wunsch, eine Fotoserie über die „Ewige Wanderratte“ Jean Paul zu machen, im Hinblick auf dessen 250. Geburtstag im März 2013.
Jean Paul und seine Zeitgenossen waren beseelt von den Idealen der Französischen Revolution und ihrem Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. War es ein Zufall, dass genau zu der Zeit, zu der ich auf meinen Fußwegen um Wunsiedel am Konzept meiner Fotoserie bastelte (Frühjahr 2011), sich Menschen auf der ganzen Welt wieder auf diese Ideale bezogen und für ihre Umsetzung demonstrierten? Die Occupy-Wallstreet-Bewegung thematisierte den Kampf gegen Finanzkapitalismus und Neoliberalismus, die Piratenpartei versuchte politische Prozesse demokratischer zu gestalten und im Arabischen Frühling lehnten sich verschiedene Völker gegen Diktaturen auf und fochten für Menschenrechte und Demokratie. Ein weiterer Kreis schließt sich hier: Sowohl Occupy Wallstreet als auch der Arabische Frühling (wie auch alle asiatischen Aufstände ab den 1980ern) sind direkt beeinflusst von dem basisdemokratisch organisierten Volksaufstand in Gwangju/Südkorea vom Mai 1980. Er richtete sich gegen die dortige US-gesponserte Militärdiktatur und gilt als das zentrale Ereignis zur Entwicklung eines demokratischen Staatswesens in Südkorea. Die Orte dieses Aufstandes und die Opfer des anschließenden Massakers sind Thema meiner Arbeit REMEMBERING GWANGJU, die ich 2009-2010 gemacht habe.
Nicht nur für mich ist das alles verknüpft, auch Jean Paul war der Auffassung, alles hänge mit allem zusammen, eine wirklich buddhistisch-philosophische Weltsicht! In meiner Fotoarbeit JEAN PAUL SOULSCAPES lasse ich meine heutigen eher säkular nüchternen Bilder der Felder, Wiesen und Wege mit den romantisch-göttlich überladenden Landschaften der Romane Jean Pauls kontrastieren. Die heutigen Bilder spiegeln die veränderte Sichtweise auf Natur und Landschaft wieder. Natur heute wird nicht mehr erlebt wie zu Jean Pauls Zeiten, sondern meist nur noch genutzt. Spuren und Furchen in den Feldern verweisen auf die industrielle Landwirtschaft, die Bilder sind menschenleer. Ich habe kaum Spaziergänger bei meinen Streifzügen getroffen, nur Jogger, die sich mit Kopfhörer und IPod so weit wie möglich von ihrer Umgebung abkapselten. Und, auch das ist heute anders als zu Jean Pauls heile-Welt- Zeiten, die Staubäcker des Frühjahres 2012 künden von der Bedrohung durch Global Warming. Meine Serie hat drei Elemente, die ständig als Motive wiederkehren: Wege, Bäume und die Jahreszeiten. Erst durch den Vergleich der Fotos fiel mir auf, wie oft sich die Farben in der Landschaft ändern. Vom frischen Grün des Sommers zum frühen Braun des August, dann wieder Grün im Oktober dank der Wintersaat, dann wieder Braungrau bis zum Mai. Mehr als acht Monate im Jahr bietet die Landschaft des Fichtelgebirges nur monochrome Grün- und Braunschattierungen.
Liegt darin und in den langen dunklen Winternächten vielleicht der Grund dafür, dass sich der Dichter Jean Paul so eloquent in die Phantasie geflüchtet hat?
Matthias Ley 2013